In der Debatte um Kultursubventionen regt sich Unmut. Längst gehört es zum guten Ton, vor allem die Opernhäuser anzugreifen. Dabei sind sie viel besser als ihr Ruf.

Orpheus in der UnterweltSeit November 2010 fragt der Berliner Tagesspiegel auf seiner Website: Sollen Tickets für die Oper subventioniert werden? Aktuell wurden rund 8500 Stimmen abgegeben, 58 Prozent davon antworteten mit Ja, 42 Prozent mit Nein. Eine knappe Mehrheit. Inspiriert wurde die Umfrage von Zahlen aus dem Hauptausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses, wonach “der Steuerzahler” 2009 eine Eintrittskarte für die Staatsoper Unter den Linden mit 186,10 Euro, für die Komische Oper mit 181,10 Euro und für die Deutsche Oper mit 171,40 Euro bezuschusst hat. Und schon ratterte und rechnete es in den Köpfen vieler selbst ernannter Sarrazine, was sich nicht alles Vernünftigeres, Schöneres, ja Besseres (ökonomisch wie moralisch) mit diesem Geld anfangen ließe.

Die Debatte jedenfalls bedient sich der bekannten Totschlagargumente und Antinomien: Hartz IV gegen Eliteförderung, die Schicki-Mickis gegen das Prekariat, Kunst gegen Kommerz, Erziehung gegen Unterhaltung, das alte Europa gegen neue Migrationshintergründe, kurz: das Musiktheater gegen den Rest unseres reichen, unterstützungsbedürftigen öffentlichen Lebens, gegen Kitas, Altersheime, Bibliotheken, Schwimmbäder, das Polizeiwesen und die Schneeräumung.

Im Gegensatz zu einer körperlichen Ertüchtigung, einem Sprachkurs oder einer warmen Mahlzeit sei Oper nicht existenziell, sagen die einen; seit wann der Mensch im Land der Dichter und Denker nur leibliche Bedürfnisse habe, fragen die anderen. Bräche man die Zuschussleistungen auf einzelne erlernte Vokabeln oder verzehrte Currywürste herunter, das Zahlenwerk sähe nicht minder haarsträubend aus als bei Verdis Aida oder Mozarts Zauberflöte.

Das alles ist nicht neu, und natürlich bedeutet Demokratie auch, dass Werte regelmäßig überprüft werden, im Sinne des Gemeinwohls und um diesem den Puls zu fühlen. Der Ton aber, in dem neuerdings über Oper gestritten wird, verschärft sich, und die Akzeptanz der Hochkultur ist dramatisch im Schwinden begriffen.

Eine Onlineumfrage wie die erwähnte mag aus vielerlei Gründen nicht repräsentativ sein, auch kennt sie kaum Vergleichsgrößen. Gefühlt aber scheint sie zu stimmen. Nie zuvor waren so viele Menschen offen der Meinung, dass die Oper als staatlich geförderte Institution abgeschafft gehörte (im Unterschied zu Museen und Sprechtheatern, denen so etwas wie ein Bildungsauftrag zugebilligt wird). Ein wenig vergeblich pocht Andreas Homoki, Intendant der Komischen Oper, da auf die Tradition: “Es gibt Länder, die keine Opernhäuser haben, der Irak zum Beispiel oder Nigeria, vielleicht ist das auch okay. Unsere Städte aber sind um die Theater herum gebaut. Das ist unsere Kultur.”

Die Zeiten der Toleranz jedenfalls sind vorbei. Das hat mit der globalen Wirtschaftskrise seit 2008 zu tun (und deren Chimären) und überhaupt mit der Kommerzialisierung unseres Bewusstseins. Es hat aber auch damit zu tun, dass es offenbar nicht gelungen ist, die Oper im 21. Jahrhundert so zu verankern und zu legitimieren, dass sie sich einen Flop oder miese Quoten leisten kann, ohne institutionell infrage gestellt zu werden.

Früher wurde gern weltanschaulich argumentiert; heute führt man fast ausschließlich wirtschaftliche Kriterien ins Feld und wähnt sich damit auf der sicheren, gleichsam objektiven Seite. Dass den politisch und künstlerisch Verantwortlichen über diesem Bashing der Atem ausgehen könnte, ist die Bedrohung der Stunde.

Ein Exempel für dieses neue Bashing lieferte unlängst ein Artikel im Magazin Wirtschaftswoche (gehört wie ZEIT ONLINE und der Tagesspiegel zur Holtzbrinck-Gruppe). Schlampig und tendenziös recherchiert, falsch gerechnet, falsch zitiert. Als Rolf Bolwin, der geschäftsführende Direktor des Deutschen Bühnenvereins, zum “Wirtschaftlichkeitscheck” an deutschen Musiktheatern in einem zweistündigen Gespräch mit dem Autor nicht das Erhoffte beitragen kann, fällt er samt aller Fakten unter den Tisch.

Torsten Wöhlert wiederum, der Sprecher der Berliner Senatskulturverwaltung, ist sich eines Interviews gar nicht erst bewusst und findet sich mit dem schönen Satz wieder, dass es in Berlin keine drei Opernhäuser mehr gäbe, “wenn wir heute am Reißbrett neu planen könnten”. So geht Stimmungsmache. Dass hier vom Reißbrett des Repertoires die Rede war und nicht von Fusionierung oder Eliminierung, ist dem Kollegen glatt entgangen – wahrscheinlich weil er nicht weiß, was ein Repertoire ist.

Und dann ist da noch Herr Tröndle aus Friedrichshafen, Professor für Kulturbetriebslehre an der Zeppelin University, mit seinen so dankbaren wie hanebüchenen Prognosen. In 30 Jahren, unkt Tröndle, werde sich das Opernpublikum um 40 Prozent reduziert haben. Schon sieht der Laie, was er sehen soll: gähnend leere Ränge. Das ist selbst Andreas Mölich-Zebhauser zu blöd, dem Intendanten des Baden-Badener Festspielhauses und strahlenden Gewinner des Checks: “Davon spüren wir gar nichts, im Gegenteil. Die Neugier im Publikum wird größer! Also für mich ist das alles nicht belegt.”

Ende dieses Jahres wird das Festspielhaus Baden-Baden europaweit einer der ersten ISO-zertifizierten (und also qualitätsmanagementsgeprüften) Kulturbetriebe sein, und das ist für die Wirtschaftswoche nur ein Steinchen im schillernden Mosaik der Vorbildlichkeit. Die Sache ist simpel: Weil Baden-Baden sich rein privatwirtschaftlich organisiert, also weder ein eigenes Ensembles unterhält noch Subventionen bezieht, und die öffentlichen Kassen immer leerer werden, liege hier und nur hier – Amerika lässt grüßen! – die Zukunft.

Im Umkehrschluss, und weil es Spaß macht, alte Keile frisch zu treiben und Häme auszuschütten: Das traditionelle Stadttheatersystem mit seinen Schmarotzerstrukturen und ferkeligen Regietaten habe sich erledigt, ein für alle Mal. Bleibt die Frage, welcher Solisten, Chöre und Orchester Baden-Baden sich denn bedienen möchte, wenn es im restlichen Land keine mehr gibt.

Die Basis für diese Botschaft ist mehr als brüchig, wie gesagt. Das fängt bei den Zuschüssen pro Besucher an. Teilt man die Gesamtsubvention eines Hauses nicht durch alle Veranstaltungen, sondern nur durch die des Musiktheaters, kommen, wie gewünscht, Horrorzahlen heraus. Im Falle des Volkstheaters Rostock errechnet sich so ein Zuschuss von 402 Euro (tatsächlich 133,84 Euro), im Falle der Komischen Oper einer von 224,18 Euro (statt 164,74 Euro – woraus sich wiederum die Differenz zu der im Abgeordnetenhaus gehandelten Zahl speist, siehe oben, weiß der Himmel).

Wie verfällt man überhaupt auf den Gedanken, dass Theaterarbeit so ohne Weiteres am Rechenschieber zu ermitteln und in Hitparaden zu pressen sei? Wann ist ein Opernhaus erfolgreich? Was verbindet einen touristischen Hotspot wie die Dresdner Semperoper (die etliche Vorstellungen zu 100 Prozent an internationale Reiseunternehmen verkauft) mit einer typischen Volksoper wie der Komischen Oper, die dank ihres erklärten Willens zum künstlerischen Risiko und ihrer extensiven Kinder- und Jugendarbeit bei den Eigenerträgen zwangsläufig schlechter dastehen muss?

Wenig, sagt Susanne Moser, Geschäftsführende Direktorin an der Komischen Oper, ärgerlich sei es, auf “ein paar willkürlich zusammengestellte Zahlen” reduziert zu werden. Und dann belegt die Betriebswirtin, warum derlei plumpe Attacken ihr Ziel längst verfehlen: Seit 2005 sind an ihrem Haus nicht nur die Eigenerträge um 1,9 Millionen Euro gestiegen (was einem Plus beim Kostendeckungsgrad von vier Prozent entspricht), sondern auch die Zuschauerzahlen um 6,5 Prozent (wobei eine Gesamtauslastung von 62,8 Prozent sicher noch steigerungsfähig ist).

Das heißt: Die Tendenz ist durchwegs positiv. Das heißt auch: Heute wird wesentlich effizienter, kreativer und flexibler produziert als dereinst, die Investitionen in Controlling und Marketing zahlen sich aus. Und was Baden-Baden demnächst seine ISO-Plakette sein wird, ist der Komischen Oper ihr CRM, das Customer-Relationship-Management, mit dem man beispielsweise herausfindet, dass es nicht selten die kinderopernbegeisterten Kleinen sind, die ihre Eltern zum ersten Mal auch in große Stücke schleifen. Prokofiews Liebe zu den drei Orangen bewährt sich da hervorragend.

Finanzieller Druck, sagt Andreas Mölich-Zebhauser, setzt Fantasie frei. Sparrunden und Debattentäler, sagt Andreas Homoki, hätten sein Haus auch stark gemacht. Im subventionierten Theatersystem sind solchen Optimierungsprozessen freilich Grenzen gesetzt. Sparen darf nicht, wie derzeit in Ulm, Leipzig, Bonn oder Hamburg, allem Wirtschaftswachstum zum Trotz, Kaputtsparen bedeuten.

Und über die Qualität von Kunst muss unbedingt weiter gestritten und debattiert werden. An der Universität Zürich übrigens kann man sich seit 2002 zum “Executive Master in Arts Administration” ausbilden lassen. Hier lernen zukünftige Intendanten, wie engmaschig das künstlerische und das wirtschaftliche Denken miteinander verflochten sein müssen. Ganz ohne Buhmänner und böse Statistiken.

 

Publikation: Tagesspiegel, ZEIT online