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“Das Urheberrecht hat einen Kern, über den man nicht verfügen kann”

Interview mit Christian Sprang, Justiziar des Börsenvereins, zum Ausgang des Google Book Settlement
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Denny Chin hat mit seiner Ablehnung des Google-Buchsuche-Vergleichs Rechtsgeschichte geschrieben, in dem er klarstellt: Das Urheberrecht ist ein Eigentumsrecht, über das niemand ohne Einwilligung des Rechteinhabers verfügen kann. Boersenblatt.net hat mit Börsenvereinsjustiziar Christian Sprang über die Folgen für Rechteinhaber und Vergleichsparteien, über die künftige Nutzung digitalisierter Werke und über den Umgang mit vergriffenen Werken gesprochen.

Was bedeutet die Ablehnung des Google Book Settlement für die Rechteinhaber – auch in Deutschland?

Mit dem Spruch von Denny Chin ist ein für alle Mal der Fall abgewendet, dass Google geschützte Inhalte nutzt, ohne den Inhaber der Rechte vorher zu fragen – mit anderen Worten, es gibt künftig nur noch das „Opt-in“-Modell. Und das gilt ganz unabhängig davon, wo dies geschieht. Natürlich kann niemand Google daran hindern mit dem Einscannen fortzufahren – aber dann muss der Konzern damit rechnen, dass man ihn verklagt, zumindest sobald die entstandenen Dateien vervielfältigt oder sonst kommerziell genutzt werden. Die Situation ist aber auch für Google nicht ganz einfach: Das Unternehmen hat sich ja vertraglich dazu verpflichtet, als Dienstleister der großen amerikanischen Bibliotheken deren Bestände zu digitalisieren. Die Frage ist dabei nur, ob das der reinen Bestandssicherung der Bibliotheken dient, oder ob darüber hinaus gehende Nutzungen erfolgen.

Und was passiert, wenn Google die Buchdateien dennoch nutzt?

Dann ist dies auf jeden Fall eine flagrante Verletzung des Urheberrechts – „wholesale, blatant copying“, wie es in Denny Chins Beschluss heißt.

Spielen die kleinen Buchausschnitte – die „snippets“ –, die das Verfahren gegen Google vor Jahren ins Rollen gebracht haben, noch eine Rolle?

Nein, darüber regt sich heute kaum noch jemand ernsthaft auf. Viel wichtiger ist die Frage des Vertriebs ganzer E-Books. Hier will Google ja im Wettbewerb mit Amazon und Apple mit seinen Editions mitmischen. Unter Missachtung von Urheberrechten wird das nun jedenfalls selbst in den USA nicht mehr gehen.

Wollen die Vergleichsparteien das Verfahren fortsetzen?

Google wird wahrscheinlich nichts anderes übrig bleiben, wenn die Digitalisierung nicht umsonst gewesen sein soll. Aber auch der Verlegerverband AAP und die Authors Guild haben ein Interesse an einer Klärung, zumal Anwalts- und Gerichtskosten in exorbitanter Höhe angefallen sind. Bis zur Status Conference am 25. April, zu der Denny Chin die Parteien bestellt hat, werden sie das weitere Vorgehen eruiert haben. Ob ein Vergleich, der eine Opt-in-Regelung voraussetzt, überhaupt noch zweckmäßig sein kann, sei dahingestellt. Man sollte sich nicht der Illusion hingeben, bei Millionen von eingescannten jahrzehntealten Büchern ein Opt-in mit einer hohen Zustimmungsquote durchführen zu können.

Gibt es denn einen Ausweg aus dem Dilemma, einerseits möglichst viele vergriffene Werke online zugänglich zu machen und andererseits vorhandene Rechte nicht zu verletzen?

Eine pragmatische Lösung hat die VG Wort beschlossen, in dem sie den Wahrnehmungsvertrag auf die Digitalisierung vergriffener Bücher ausgedehnt hat, die bis zum 31. Dezember 1965 erschienen sind und heute in keiner Form mehr lieferbar sind. In diesen Fällen kann die VG Wort für nicht kommerzielle Zwecke – also namentlich die geplante Deutsche Digitale Bibliothek – eine Lizenz erteilen und verteilt den Lizenzerlös dann titelbezogen an Autoren und Verlage. Dabei bekommen die Werkberechtigten Informationen über die Nutzung der vergriffenen Titel und können diese nach Widerruf und Rückzahlung der Lizenzgebühr jederzeit wieder selbst bewirtschaften. Wenn der deutsche Gesetzgeber mitspielt, wird diese Möglichkeit auf sämtliche in Deutschland vor 1966 erschienenen, heute vergriffenen Bücher ausgedehnt. Bei allen Büchern, die ab 1966 erschienen sind oder die noch lieferbar sind, muss hingegen auch weiterhin die Einwilligung des Rechteinhabers eingeholt werden.

Bedeutet die Ablehnung des Settlements im Grunde nicht das Aus für Googles Geschäftsmodell?

Google wird sich sicher die Frage stellen müssen, ob sich der Aufwand für die Massendigitalisierung noch lohnt, wenn das Verfahren auf „Opt-in“ umgestellt wird. Die Erträge könnten drastisch sinken.

Muss in den USA nicht der Gesetzgeber aktiv werden?

Das Department of Justice saß ja mit am Tisch und es hat in den USA ja 2006 und 2008 auch schon Anläufe für gesetzliche Regelungen der Problematik der verwaisten Werke gegeben. Dass diese dort gescheitert sind, hing vor allem damit zusammen, dass Amerika nicht über funktionierende und wirkungsvolle Verwertungsgesellschaften verfügt wie Deutschland und viele andere europäische Staaten.

Hat Denny Chin mit seiner Entscheidung Rechtsgeschichte geschrieben?

Die Autoren und Verleger können sich das Urteil in Gold einrahmen, denn Richter Chin hat darin klar zum Ausdruck gebracht: Das Urheberrecht hat einen Kern, über den man nicht verfügen kann. Es ist ein Eigentumsrecht, und dahinter muss der Anspruch der Internetgemeinde, alle Inhalte zugänglich zu machen, schlicht und einfach zurücktreten.

Aber haben Verlage nicht zumindest eine moralische Verpflichtung, auch im Internet den Zugang zu möglichst vielen Inhalten zu ermöglichen?

Ganz bestimmt. Aber es ist auch eine Mär zu glauben, dass es im Netz eine ständige Nachfrage nach wichtigen Inhalten gäbe, die kommerziell nicht erhältlich sind. Drei von fünf gemeinfreien Büchern, das zeigt eine aktuelle Untersuchung, sind nach ihrer Digitalisierung nicht ein einziges Mal weltweit genutzt worden.

 

Interview: Michael Roesler-Graichen

Publikation: boersenblatt.net

“Ein Musical kann kein Geschichtsstudium ersetzen”

Regisseur Matthias Davids über die österreichische Erstaufführung von “Miss Saigon”, die Arbeit als Musiktheater-Regisseur und die Vor- und Nachteile des kommerziellen und des subventionierten Theaters

davidsIm Februar 2011 bringen Sie “Miss Saigon” in Klagenfurt zur österreichischen Erstaufführung. Wird es Parallelen zu Ihrer Inszenierung in St. Gallen (Schweiz) im Jahr 2003 geben oder bekommt Klagenfurt seine eigene “Miss Saigon”?

Klagenfurt bekommt seine eigene “Miss Saigon”, denn in acht Jahren verändert sich natürlich so manche Sichtweise auf ein Stück und dessen Inhalt. Unsere Grundidee, die sich in St. Gallen meiner Meinung nach hervorragend bewährt hat, werden wir allerdings beibehalten. Aus den Trümmern der Zerstörungen eines furchtbaren Krieges erwächst etwas Neues, aus der Asche erblüht Hoffnung, auf den Ruinen wohnen die Opfer und versuchen zurechtzukommen. Diese Idee werden wir auch im Bühnenbild visualisieren.

Was reizt Sie an “Miss Saigon”, dass Sie es bereits zum zweiten Mal inszenieren?

In “Miss Saigon” vereinigt sich alles, was gutes Musiktheater ausmacht: Es ist eine hoch emotionale Liebesgeschichte vor dem Hintergrund einer historischen Ausnahmesituation, die Figur des Engineers bildet mit seinem zynischen Humor ein Gegengewicht zum Liebespaar Kim und Chris und vertieft die durchaus ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Vietnamkrieg, die wir in “Miss Saigon” finden.

Denken Sie, dass “Miss Saigon” die Wirren des Vietnamkrieges recht realistisch darstellt, oder ist es mehr Fiktion als Wirklichkeit?

Ein Musical kann kein Geschichtsstudium ersetzen. Selbstverständlich habe ich mich im Vorfeld beider Produktionen ziemlich ausführlich mit Verlauf und Hintergründen des Vietnamkriegs auseinandergesetzt. Dabei fällt auf, was bei der flüchtigen Beschäftigung mit “Miss Saigon” gar nicht so deutlich wird: Die Autoren haben die historischen Fakten sehr geschickt mit ihrer Erzählung verwoben, statt sie lediglich als farbigen Hintergrund zu missbrauchen. Ihre Kunst besteht auch darin, dass man sich als Zuschauer trotzdem nicht belehrt fühlt und die Figuren nicht nur als Stellvertreter für verschiedene Positionen daherkommen.

Die deutschen Texte von Heinz Rudolf Kunze, die bei “Miss Saigon” zu Gehör kommen, wirken teilweise etwas holprig und wurden in der Vergangenheit immer mal wieder bemängelt. Wie stehen Sie zu den Texten?

Ich vertrete – abgesehen von Ausnahmefällen wie der “West Side Story” – stets die Ansicht, man solle für ein deutschsprachiges Publikum in deutscher Sprache spielen. Erfahrungsgemäß sind nur wenige des Englischen so mächtig, dass sie Songtexte ohne Weiteres verstehen. Die Möglichkeit der Übertitelung erhöht die Kluft zwischen Bühne und Zuschauern und scheidet deshalb für Musicals mit einem gewissen Anspruch meiner Ansicht nach deshalb ebenfalls aus. Die deutsche Fassung von Heinz Rudolf Kunze halte allerdings auch ich für teilweise nicht sehr gelungen. Die Konditionen, die auf den Rechteinhaber Cameron Mackintosh zurückgehen, sind da jedoch glasklar und unmissverständlich: Die Adaption oder Veränderung auch einzelner Zeilen des deutschen Textes ist nicht erlaubt. Was soll man da machen? Zum Glück ist das Stück so gut, dass die paar misslungenen Übertragungen keinen so großen Schaden anrichten, wenn man das Ganze betrachtet.

In Klagenfurt werden recht bekannte Musicaldarsteller wie Carsten Lepper als Chris und Wietske van Tongeren als Ellen auf der Bühne stehen. Inwiefern waren Sie denn bei der Besetzung der einzelnen Rollen involviert?

Die Besetzung von “Miss Saigon” habe ich gemeinsam mit dem Musikalischen Leiter Michael Brandstätter, der Choreografin Melissa King und in Absprache mit der Theaterdirektion gemacht. Sollten einmal unterschiedliche Meinungen aufkommen, muss natürlich einer entscheiden – das ist dann halt der Regisseur.

Wenn wir uns Ihre Vita ansehen, können wir feststellen: Über zu wenig Regieaufträge können Sie sich nicht beschweren. Wie kommen Sie eigentlich zu diesen Aufträgen? Kommen die Theater ausschließlich auf Sie zu oder bewerben Sie sich um Regieaufträge?

Sich für Theaterproduktionen als Regisseur zu bewerben, ist nach meiner Erfahrung völlig sinnlos. Die Intendanten haben etwas von dir gesehen oder du bist ihnen empfohlen worden, und dann rufen sie dich an. Am Anfang gehört ein bisschen Glück dazu, und man wird nicht gerade von Anfragen überrollt. Inzwischen läuft es aber sehr gut. Vor allem fragt man mich auch öfters wegen ungewöhnlicher Projekte an, für die ich immer offen bin. Ich hoffe, es bleibt noch eine Weile so.

Wie dürfen wir uns die Arbeit eines Regisseurs genau vorstellen? Haben Sie ein festes Schema, nach dem sie immer arbeiten?

Wenn sechs Wochen vor der Premiere die Proben beginnen, habe ich die meiste Arbeit, aber auch den meisten Spaß schon hinter mir. Etwa ein Jahr vorher geht es los. Ich lese das Textbuch, höre, wenn vorhanden, die verschiedenen Aufnahmen der Musik und schaue mir den Klavierauszug an. Dann kommt die wunderbare Zeit, in der ich Sekundärliteratur wälze – Biografien der Autoren, historische Hintergründe, Stückgrundlagen wie Romane oder Schauspiele, wissenschaftliche Werke, Kunst- und Fotobände. Im günstigsten Fall entstehen dabei erste Ideen für die Bühnen- und Inszenierungskonzeption. Mit meinem Bühnenbildner setze ich mich auch schon früh zusammen, und wir gehen nicht auseinander, bis wir eine hoffentlich ungewöhnliche Idee für die Ausstattung haben.

Sie führen im Musical genauso Regie wie in der Oper. Liegen Ihnen beide Genres des Musiktheaters gleichermaßen am Herzen? Wo sind für Sie als Regisseur die Unterschiede?

Ich liebe beide Genres. In der Vorbereitung unterscheiden sich Opern- und Musicalinszenierungen nicht wesentlich – beide verlangen ernsthafte und kreative Arbeit. Unterschiede gibt es bei der Probenarbeit. Opernsänger sind aus nachvollziehbaren Gründen sehr um ihre Stimme besorgt, und man kann sie nicht beliebig auf der Bühne herumturnen lassen, wenn sie eine schwierige Arie über die Rampe bringen müssen. Ich finde aber, die Genregrenzen sollte man weitestgehend ignorieren, denn jedes Stück hat seine eigenen Erfordernisse, die mehr durch Inhalt, Figuren und Musik als durch das Genre definiert werden.

Sie haben schon viele Musicals inszeniert. Vor allem jedoch an Stadt- und Staatstheatern, weniger an großen Ensuite-Häusern. Ist das purer Zufall oder gewollt?

Ich habe in beiden Systemen gearbeitet und kenne Vor- und Nachteile des kommerziellen und des subventionierten Theaters. An den Ensuite-Häusern werden fast immer die Originalinszenierungen aus New York oder London übernommen, die von Assistenten des Originalregisseurs einstudiert werden. Die Stadt- und Staatstheater können bei den Produktionskosten natürlich nicht mithalten, dafür profitieren sie von einem existierenden künstlerischen und technischen Stab und sind in der Stückwahl viel freier als die zum Megaerfolg verdammten Ensuite-Häuser.

Würden Sie sagen, dass Sie an kleineren Häusern wesentlich freier arbeiten und mehr eigene Ideen in eine Inszenierung einfließen lassen können als bei Musical-Großproduktionen?

Ja, das ist schon richtig. Allerdings muss ich einschränkend sagen: Theater wie die Staatsoper Hannover, das Gärtnerplatztheater in München oder die Staatsoper Nürnberg sind riesige Betriebe, die an Professionalität und Vielfalt der Möglichkeiten nach meiner Erfahrung kommerziellen Häusern oft überlegen sind.

Während viele Stadt- und Staatstheater oft Mut beweisen und auch Stücke spielen, die nicht massenkompatibel erscheinen, wird dem Publikum an den großen Häusern momentan ein Jukebox-Musical nach dem anderen vorgesetzt. Was denken Sie, wie sich das Musical im deutschsprachigen Raum in dieser Hinsicht weiterentwickeln wird?

Musical ist auch deshalb so spannend, weil es sich in seiner Zeitgebundenheit stetig verändert. Ich will meine Zeit nicht damit verschwenden, bestimmte Moden zu beklagen, sondern mich darauf konzentrieren, meine persönlichen Perlen zu entdecken und, wenn möglich, zu fördern. Offenbar gibt es heute ein großes Publikum für das Compilation-Musical, das Musik, die es kennt, in einer besonderen Darbietungsform genießen will und sich nicht von einer oft etwas hölzernen Story irritieren lässt. Das mag mir persönlich nicht so gefallen, aber ich verurteile es nicht. Bisher konnte ich oft auch mit eher ungewöhnlichen Stücken ein genügend großes Publikum erreichen, aber seien wir ehrlich: Man kann in Deutschland nicht zwei Jahre lang ein Tausend-Plätze-Haus mit Sondheim füllen.

 

Matthias Davids wurde in Münster geboren und studierte an der dortigen Universität Musikwissenschaften, Germanistik und Sprecherziehung. Nachdem er Hauptrollen in verschiedenen Musicals (u.a. “Jesus Christ Superstar”, “West Side Story”) spielte, wechselte er ins Regiefach und machte sich mit seinen zahlreichen Musical- und Operninszenierung einen Namen.

Publikation: musicalzentrale

Wie viel Oper braucht das Land?

In der Debatte um Kultursubventionen regt sich Unmut. Längst gehört es zum guten Ton, vor allem die Opernhäuser anzugreifen. Dabei sind sie viel besser als ihr Ruf.

Orpheus in der UnterweltSeit November 2010 fragt der Berliner Tagesspiegel auf seiner Website: Sollen Tickets für die Oper subventioniert werden? Aktuell wurden rund 8500 Stimmen abgegeben, 58 Prozent davon antworteten mit Ja, 42 Prozent mit Nein. Eine knappe Mehrheit. Inspiriert wurde die Umfrage von Zahlen aus dem Hauptausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses, wonach “der Steuerzahler” 2009 eine Eintrittskarte für die Staatsoper Unter den Linden mit 186,10 Euro, für die Komische Oper mit 181,10 Euro und für die Deutsche Oper mit 171,40 Euro bezuschusst hat. Und schon ratterte und rechnete es in den Köpfen vieler selbst ernannter Sarrazine, was sich nicht alles Vernünftigeres, Schöneres, ja Besseres (ökonomisch wie moralisch) mit diesem Geld anfangen ließe.

Die Debatte jedenfalls bedient sich der bekannten Totschlagargumente und Antinomien: Hartz IV gegen Eliteförderung, die Schicki-Mickis gegen das Prekariat, Kunst gegen Kommerz, Erziehung gegen Unterhaltung, das alte Europa gegen neue Migrationshintergründe, kurz: das Musiktheater gegen den Rest unseres reichen, unterstützungsbedürftigen öffentlichen Lebens, gegen Kitas, Altersheime, Bibliotheken, Schwimmbäder, das Polizeiwesen und die Schneeräumung.

Im Gegensatz zu einer körperlichen Ertüchtigung, einem Sprachkurs oder einer warmen Mahlzeit sei Oper nicht existenziell, sagen die einen; seit wann der Mensch im Land der Dichter und Denker nur leibliche Bedürfnisse habe, fragen die anderen. Bräche man die Zuschussleistungen auf einzelne erlernte Vokabeln oder verzehrte Currywürste herunter, das Zahlenwerk sähe nicht minder haarsträubend aus als bei Verdis Aida oder Mozarts Zauberflöte.

Das alles ist nicht neu, und natürlich bedeutet Demokratie auch, dass Werte regelmäßig überprüft werden, im Sinne des Gemeinwohls und um diesem den Puls zu fühlen. Der Ton aber, in dem neuerdings über Oper gestritten wird, verschärft sich, und die Akzeptanz der Hochkultur ist dramatisch im Schwinden begriffen.

Eine Onlineumfrage wie die erwähnte mag aus vielerlei Gründen nicht repräsentativ sein, auch kennt sie kaum Vergleichsgrößen. Gefühlt aber scheint sie zu stimmen. Nie zuvor waren so viele Menschen offen der Meinung, dass die Oper als staatlich geförderte Institution abgeschafft gehörte (im Unterschied zu Museen und Sprechtheatern, denen so etwas wie ein Bildungsauftrag zugebilligt wird). Ein wenig vergeblich pocht Andreas Homoki, Intendant der Komischen Oper, da auf die Tradition: “Es gibt Länder, die keine Opernhäuser haben, der Irak zum Beispiel oder Nigeria, vielleicht ist das auch okay. Unsere Städte aber sind um die Theater herum gebaut. Das ist unsere Kultur.”

Die Zeiten der Toleranz jedenfalls sind vorbei. Das hat mit der globalen Wirtschaftskrise seit 2008 zu tun (und deren Chimären) und überhaupt mit der Kommerzialisierung unseres Bewusstseins. Es hat aber auch damit zu tun, dass es offenbar nicht gelungen ist, die Oper im 21. Jahrhundert so zu verankern und zu legitimieren, dass sie sich einen Flop oder miese Quoten leisten kann, ohne institutionell infrage gestellt zu werden.

Früher wurde gern weltanschaulich argumentiert; heute führt man fast ausschließlich wirtschaftliche Kriterien ins Feld und wähnt sich damit auf der sicheren, gleichsam objektiven Seite. Dass den politisch und künstlerisch Verantwortlichen über diesem Bashing der Atem ausgehen könnte, ist die Bedrohung der Stunde.

Ein Exempel für dieses neue Bashing lieferte unlängst ein Artikel im Magazin Wirtschaftswoche (gehört wie ZEIT ONLINE und der Tagesspiegel zur Holtzbrinck-Gruppe). Schlampig und tendenziös recherchiert, falsch gerechnet, falsch zitiert. Als Rolf Bolwin, der geschäftsführende Direktor des Deutschen Bühnenvereins, zum “Wirtschaftlichkeitscheck” an deutschen Musiktheatern in einem zweistündigen Gespräch mit dem Autor nicht das Erhoffte beitragen kann, fällt er samt aller Fakten unter den Tisch.

Torsten Wöhlert wiederum, der Sprecher der Berliner Senatskulturverwaltung, ist sich eines Interviews gar nicht erst bewusst und findet sich mit dem schönen Satz wieder, dass es in Berlin keine drei Opernhäuser mehr gäbe, “wenn wir heute am Reißbrett neu planen könnten”. So geht Stimmungsmache. Dass hier vom Reißbrett des Repertoires die Rede war und nicht von Fusionierung oder Eliminierung, ist dem Kollegen glatt entgangen – wahrscheinlich weil er nicht weiß, was ein Repertoire ist.

Und dann ist da noch Herr Tröndle aus Friedrichshafen, Professor für Kulturbetriebslehre an der Zeppelin University, mit seinen so dankbaren wie hanebüchenen Prognosen. In 30 Jahren, unkt Tröndle, werde sich das Opernpublikum um 40 Prozent reduziert haben. Schon sieht der Laie, was er sehen soll: gähnend leere Ränge. Das ist selbst Andreas Mölich-Zebhauser zu blöd, dem Intendanten des Baden-Badener Festspielhauses und strahlenden Gewinner des Checks: “Davon spüren wir gar nichts, im Gegenteil. Die Neugier im Publikum wird größer! Also für mich ist das alles nicht belegt.”

Ende dieses Jahres wird das Festspielhaus Baden-Baden europaweit einer der ersten ISO-zertifizierten (und also qualitätsmanagementsgeprüften) Kulturbetriebe sein, und das ist für die Wirtschaftswoche nur ein Steinchen im schillernden Mosaik der Vorbildlichkeit. Die Sache ist simpel: Weil Baden-Baden sich rein privatwirtschaftlich organisiert, also weder ein eigenes Ensembles unterhält noch Subventionen bezieht, und die öffentlichen Kassen immer leerer werden, liege hier und nur hier – Amerika lässt grüßen! – die Zukunft.

Im Umkehrschluss, und weil es Spaß macht, alte Keile frisch zu treiben und Häme auszuschütten: Das traditionelle Stadttheatersystem mit seinen Schmarotzerstrukturen und ferkeligen Regietaten habe sich erledigt, ein für alle Mal. Bleibt die Frage, welcher Solisten, Chöre und Orchester Baden-Baden sich denn bedienen möchte, wenn es im restlichen Land keine mehr gibt.

Die Basis für diese Botschaft ist mehr als brüchig, wie gesagt. Das fängt bei den Zuschüssen pro Besucher an. Teilt man die Gesamtsubvention eines Hauses nicht durch alle Veranstaltungen, sondern nur durch die des Musiktheaters, kommen, wie gewünscht, Horrorzahlen heraus. Im Falle des Volkstheaters Rostock errechnet sich so ein Zuschuss von 402 Euro (tatsächlich 133,84 Euro), im Falle der Komischen Oper einer von 224,18 Euro (statt 164,74 Euro – woraus sich wiederum die Differenz zu der im Abgeordnetenhaus gehandelten Zahl speist, siehe oben, weiß der Himmel).

Wie verfällt man überhaupt auf den Gedanken, dass Theaterarbeit so ohne Weiteres am Rechenschieber zu ermitteln und in Hitparaden zu pressen sei? Wann ist ein Opernhaus erfolgreich? Was verbindet einen touristischen Hotspot wie die Dresdner Semperoper (die etliche Vorstellungen zu 100 Prozent an internationale Reiseunternehmen verkauft) mit einer typischen Volksoper wie der Komischen Oper, die dank ihres erklärten Willens zum künstlerischen Risiko und ihrer extensiven Kinder- und Jugendarbeit bei den Eigenerträgen zwangsläufig schlechter dastehen muss?

Wenig, sagt Susanne Moser, Geschäftsführende Direktorin an der Komischen Oper, ärgerlich sei es, auf “ein paar willkürlich zusammengestellte Zahlen” reduziert zu werden. Und dann belegt die Betriebswirtin, warum derlei plumpe Attacken ihr Ziel längst verfehlen: Seit 2005 sind an ihrem Haus nicht nur die Eigenerträge um 1,9 Millionen Euro gestiegen (was einem Plus beim Kostendeckungsgrad von vier Prozent entspricht), sondern auch die Zuschauerzahlen um 6,5 Prozent (wobei eine Gesamtauslastung von 62,8 Prozent sicher noch steigerungsfähig ist).

Das heißt: Die Tendenz ist durchwegs positiv. Das heißt auch: Heute wird wesentlich effizienter, kreativer und flexibler produziert als dereinst, die Investitionen in Controlling und Marketing zahlen sich aus. Und was Baden-Baden demnächst seine ISO-Plakette sein wird, ist der Komischen Oper ihr CRM, das Customer-Relationship-Management, mit dem man beispielsweise herausfindet, dass es nicht selten die kinderopernbegeisterten Kleinen sind, die ihre Eltern zum ersten Mal auch in große Stücke schleifen. Prokofiews Liebe zu den drei Orangen bewährt sich da hervorragend.

Finanzieller Druck, sagt Andreas Mölich-Zebhauser, setzt Fantasie frei. Sparrunden und Debattentäler, sagt Andreas Homoki, hätten sein Haus auch stark gemacht. Im subventionierten Theatersystem sind solchen Optimierungsprozessen freilich Grenzen gesetzt. Sparen darf nicht, wie derzeit in Ulm, Leipzig, Bonn oder Hamburg, allem Wirtschaftswachstum zum Trotz, Kaputtsparen bedeuten.

Und über die Qualität von Kunst muss unbedingt weiter gestritten und debattiert werden. An der Universität Zürich übrigens kann man sich seit 2002 zum “Executive Master in Arts Administration” ausbilden lassen. Hier lernen zukünftige Intendanten, wie engmaschig das künstlerische und das wirtschaftliche Denken miteinander verflochten sein müssen. Ganz ohne Buhmänner und böse Statistiken.

 

Publikation: Tagesspiegel, ZEIT online

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